Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)

Unterbringung und Wohnraumversorgung

Beitrag zum BIM-Paper vom 25.3.22 über die Folgen des Kriegs in der Ukraine für Migration und Integration / Langversion



Von Nihad El-Kayed, Leoni Keskinkılıç und Anna Wiegand




Der Berliner Hauptbahnhof ist aktuell zum zentralen Ort der Ankunft von Geflüchteten aus der Ukraine geworden. Kaum trafen die ersten Meldungen über ankommende Geflüchtete ein, fuhren bereits die ersten zivilgesellschaftlichen Initiativen und Vereine ihre Strukturen vor Ort hoch. Viele Initiativen haben sich bereits im Sommer 2015 engagiert und knüpfen nun an Netzwerken und Strukturen von damals an.

Wie 2015 zeigt sich auch heute wieder eine Zivilgesellschaft, die Geflüchteten schnell und unkompliziert beim Ankommen unterstützt und dabei vor allem auch staatliche Versorgungslücken deckt. Es werden Informationen, Fahrkarten, SIM-Karten, Decken, Kleidung, Lebensmittel, Hygieneartikel und Unterbringungsmöglichkeiten organisiert, um die Ankunft oder Weiterreise der Geflüchteten zu bewerkstelligen. In kürzester Zeit waren die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen imstande, verschiedenste Bedarfe und Sprachen abzudecken: orangene Warnwesten der Ehrenamtlichen signalisieren ukrainische oder russische Sprachkenntnisse, Anlaufstellen für LGBTIQ*-Geflüchtete und BPoC-Geflüchtete sowie blickdichte Zelte für stillende Mütter sind aufgebaut. Aber auch viele Einzelpersonen kommen zum Berliner Hauptbahnhof und bieten ihre Hilfe an.

Der Ort ist nicht nur zum Schauplatz einer großen Solidarität geworden, sondern auch von einer Zivilgesellschaft, die diese Solidarität in Taten umzusetzen weiß. Wieder einmal leisten sie Arbeit, die staatliche Versorgungslücken füllt. Der Eindruck wächst, dass sich die staatlichen Akteur:innen wieder einmal auf den Schultern der Zivilgesellschaft ausruhen, primär die bundesweite Verteilung der Ankommenden im Fokus haben und zu wenig konkrete Angebote der Entlastung und Unterstützung vor Ort schaffen. Eine Frage, die sich somit heute auch wieder stellt, ist, wann die immensen Hilfeleistungen ermüden und Proteste gegen Geflüchtete wieder in der Öffentlichkeit erstarken könnten.

Um die zivilgesellschaftlichen Ankommens- und Willkommensstrukturen nachhaltig zu stärken, sind in erster Linie staatliche Ressourcen und Handlungsspielräume gefragt. Dazu gibt es bereits aus den Erfahrungen im Sommer der Migration 2015 mehrere Anknüpfungspunkte (vgl. Hamann et al. 2017, S. 117):

  • Bund, Länder und zivilgesellschaftliche Organisationen und Wohlfahrtsverbände könnten Initiativen unkompliziert mit einer niedrigschwelligen Mikroförderung durch eine Ehrenamtsstiftung finanziell unterstützen, um selbstorganisierte finanziellen Aufwendungen auszugleichen.
  • Geflüchtete und Ehrenamtliche sind Expert:innen von Bedarfen, Barrieren und Herausforderungen beim Ankommen und der Integration von Geflüchteten. Sie sind als solche anzuerkennen und in das Verwaltungshandeln einzubeziehen. Dadurch können unnötige Hindernisse bei Zugängen zu wichtigen Ressourcen beseitigt werden.
  • Die zivilgesellschaftlichen Ankommens- und Willkommensstrukturen sollten als demokratiefördernde Grundlagenarbeit öffentlich wertgeschätzt werden. Dazu gehört auch, dass Behörden auf Landes-, Bundes- und kommunaler Ebene Maßnahmen im Sinne einer „interkulturellen Öffnung“ stärken.


Unterbringung, Wohnen und regionale Verteilung


Wie schon in 2015 zeichnen sich aktuell Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von Unterkünften ab, die akut gerade vor allem durch die Zivilgesellschaft und persönliche Hilfsbereitschaft aufgefangen werden. Gerade in urbanen Ballungsgebieten wie Berlin wohnen viele Geflüchtete noch in Gemeinschaftsunterkünften, die längst das Recht hätten in privaten Wohnraum zu ziehen aber auf dem Wohnungsmarkt keine Wohnung finden.

Neu ankommende Geflüchtete aus der Ukraine werden in Berlin nun wie 2015 wieder in Notunterkünften untergebracht – aktuell in Tegel. Noch ist unklar, wie viele Geflüchtete in Deutschland ankommen werden und wie lange die Unterbringung in Notunterkünften anhalten wird. Aus der Situation 2015 wissen wir wie belastend die gemeinschaftliche Unterbringung in Notunterkünften sein kann. Hier fehlt es vor allem an Privatsphäre und abschließbaren Bereichen, was es erschwert zur Ruhe zu kommen und auch die Gefahr von Konflikten, Diebstählen und Übergriffen erhöht (Foroutan et al. 2016).

Um ein selbstbestimmtes Leben ohne diese in Not- und Gemeinschaftsunterkünften belastenden Faktoren führen zu können, ist ein schneller Zugang zum regulären Wohnungsmarkt dringend notwendig. Maßnahmen, die den Wohnungsmarktzugang unterstützen sollten nun schnell weiter ausgebaut werden und auch anderen Geflüchteten zugänglich sein, deren Zugang zum Wohnungsmarkt ebenfalls weiterhin stark eingeschränkt ist.

In der bisherigen Forschung am BIM konnten dafür folgende Empfehlungen erarbeitet werden: Der Ausbau von Beratungs- und Unterstützungsangeboten bei der Wohnungssuche. Die Schaffung von günstigem Wohnraum und die Eindämmung von Mietpreissteigerungen. Antidiskriminierungsmaßnahmen im Bereich Wohnen und ein verbesserter Zugang zu kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen für Geflüchtete (z.B. die Bereitstellung von Wohnraum, Zugang zu Genossenschaften).

Zu dem Abbau von Diskriminierung im Wohnungsmarktzugang gehört auch die Abschaffung der Wohnsitzregelung, die seit 2016 festlegt, dass Geflüchtete für weitere drei Jahre in dem Bundesland wohnhaft bleiben müssen, dem sie in ihrem Asylverfahren zugewiesen wurden.

Aktuell ist die Anwendung dieser und anderer Regelungen, die Geflüchtete in ihrer Freizügigkeit einschränken noch unklar. Durch die Anwendung der „Massenzustromrichtlinie“ müssen Geflüchtete aus der Ukraine kein Asylverfahren durchlaufen, sondern erhalten nach §24 AufenthG eine zeitlich befristete „Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz“, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen (Richtlinie 2001/55/EG, §24 AufenthG).

Hieß es zunächst, sie würden nicht zentral über die Bundesländer verteilt werden, sondern ihren Wohnort selbst wählen können, wurde dieses Vorhaben nach nur einigen Tagen insbesondere auf Drängen der Länder Berlin und Brandenburg – zumindest teilweise – wieder zurückgenommen. Auch Flüchtende aus der Ukraine werden nun mit dem Verteilungsmechanismus des „Königsteiner Schlüssels“ auf die Bundesländer verteilt (§24(3) AufenthG, https://www.rbb24.de/politik/thema/Ukraine/beitraege/berlin-kriegsfluechtlinge-registrierung-tegel-easy-verteilung.html). Denn auch der §24 AufenthG schränkt das Recht ein, den Wohn- und Aufenthaltsort selbst zu wählen (§24(5) AufenthG).[1]

Es ist noch unklar wie genau dies bei Geflüchteten aus der Ukraine genau ausgestaltet werden wird und ob zum Beispiel auch Wohnsitzauflagen ausgesprochen werden. Aus der Erfahrung der letzten Jahre kann man bereits jetzt sagen, dass Regelungen, die Aufenthalts- und Wohnort festlegen, die Grundrechte von Geflüchteten sowie ihre Chancen eigenen Wohnraum zu finden stark und unverhältnismäßig einschränken. Zudem haben solche Regelungen lokal und regional sehr unterschiedliche Auswirkungen: Während einige Geflüchtete dadurch lokal auf sehr teure Wohnungsmärkten angewiesen sind und nicht auf andere Wohnungsmärkte mit günstigerem und größerem Angebot zurückgreifen können, müssen andere in Bundesländern bleiben, deren Arbeitsmärkte schwer zugänglich sind, was in der Folge ihre gesellschaftliche Integration erschwert (El-Kayed et al. 2011; Brücker et al. 2020).


Lokales Zusammenleben: Gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Folgen von Krieg ist notwendig


Die aktuelle Fluchtmigration aus der Ukraine trifft in Deutschland zum Teil auf spezifische lokale Situationen: Im Zuge der postsowjetischen Migration in den 1990er Jahren kamen zahlreiche Menschen auch aus der Ukraine und Russland in Deutschland an und wohne oft in den gleichen Stadtvierteln. So bestehen einerseits zum Teil diverse Kontakte und Netzwerke nach Deutschland. Zum anderen stellt sich die Frage, ob und wie der russische Angriff gegen die Ukraine auch im hiesigen lokalen Zusammenleben eine Rolle spielen wird und neue Herausforderungen erzeugen wird. So wird es zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, sich mit den Folgen dieses Krieges auseinanderzusetzen und bewusst einen Fokus auf den sozialen Zusammenhalt in der postmigrantischen Gesellschaft zu stärken.

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Relevante Veröffentlichungen zu diesen Themen am BIM:

  • Ausländerrat Dresden e.V. / dock europe e.V. / Kotti Coop e.V. / Sozialamt Stuttgart / El-Kayed, Nihad / Keskinkılıç, Leoni / Juhnke, Sebastian / Dalga, Yağmur/ Götz, Lisa (2021): Nachbarschaften des Willkommens – Bedingungen für sozialen Zusammenhalt in super-diversen Quartieren (NaWill). Handlungsempfehlungen. Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin. URL: http://edoc.hu- berlin.de/18452/24413
  • Brücker, Herbert / Hauptmann, Andreas / Jaschke, Philipp (2020): Beschränkungen der Wohnortwahl für anerkannte Geflüchtete. Wohnsitzauflagen reduzieren die Chance auf Arbeitsmarktintegration. IAB-Kurzbericht 3/2020, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. http://doku.iab.de/kurzber/2020/kb0320.pdf (letzter Zugriff am 23.2.2021).
  • El-Kayed, Nihad / Keskinkılıç, Leoni / Juhnke, Sebastian / Hamann, Ulrike (2021): Nachbarschaften des Willkommens – Bedingungen für sozialen Zusammenhalt in super-diversen Quartieren (NaWill). Abschlussbericht. Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin. URL: http://edoc.hu-berlin.de/18452/24413
  • Foroutan, Naika / Hamann, Ulrike / El-Kayed, Nihad / Jorek, Susanna (2017): Zwischen Lager und Mietvertrag – Wohnunterbringung von geflüchteten Frauen in Berlin und Dresden. Berlin: Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin. URL: https://www.sowi.hu-berlin.de/de/forschung/projekte/nawill/publikationen/forschungsbericht-zwischen-lager-und-mietvertrag-wohnunterbringung-von-gefluechteten-frauen-in-berlin-und-dresden/view
  • Hamann, Ulrike / Karakayali, Serhat / Höfler, Leif Jannis / Lambert, Laura / Meyer, Leoni (2017): Pionierinnen der Willkommensgesellschaft. Strukturen und Motive des Engagements für Geflüchtete. Berlin: Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Humboldt-Universität zu Berlin. URL:https://www.bim-fluchtcluster.hu-berlin.de/de/5-pionierinnen-der-willkommensgesellschaft/forschungsbericht_pionierinnen-der-willkommensgesellschaft/view

 

 

 


[1] https://www.rbb24.de/politik/thema/Ukraine/beitraege/berlin-kriegsfluechtlinge-registrierung-tegel-easy-verteilung.html

https://tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/aufenthaltsrecht-und-sozialleistungen-fuer-menschen-aus-der-ukraine.html