„Was bedeutet es, Europäer*in zu sein?“ – Interview mit Prof. Gökçe Yurdakul
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„Was bedeutet es, Europäer*in zu sein?“ Interview als PDF
Prof. Gökçe Yurdakul, die neue Co-Direktorin des BIM, über ihre Pläne, den Wandel der Migrationsforschung und ihren Hintergrund als Wissenschaftlerin
Prof. Yurdakul, zuerst einmal: Glückwunsch! Nun ist es offiziell – Sie sind die neue Direktorin
des BIM, das Sie als Nachfolgerin von Naika Foroutan gemeinsam mit Prof. Herbert Brücker leiten. Was planen Sie in Ihrer neuen Position?
Ich fühle mich sehr geehrt, dem Direktorium des BIM anzugehören. Da ich zu den Gründungsmitgliedern gehöre, bin ich jetzt seit zehn Jahren hier am Institut. Es ist wie ein Zuhause für mich. Und ja, es gibt drei Themen, die mir besonders am Herzen liegen.
Eines davon ist Internationalisierung. Ich habe vor, mehr internationale Wissenschaftler*innen, Netzwerke und Forschung in das BIM zubringen. Das passt übrigens auch gut zu den Ideen von Julia von Blumenthal, der derzeitigen Präsidentin der Humboldt-Universität. Besonders mit den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas werden wir in Zukunft mehr zusammenarbeiten. Das heißt: Forschungsbeziehungen aufbauen und weiterentwickeln. Außerdem möchte ich die Zusammenarbeit mit der University of Toronto verstärken, etwa durch Austausch von Doktorand*innen und gemeinsame Supervision.
Zweitens freue ich mich, dass das BIM ein inklusives Umfeld geschaffen hat, und genau das möchte ich stärken. Dazu gehören Konferenzen, Workshops, soziale Aktivitäten, um ein lebendiges Forschungsumfeld zu schaffen, das die Leute hier zusammenbringt. Außerdem wird es darum gehen, Grundkonzepte zu diskutieren, die sich kritisch mit dem Stand der Migrationsforschung auseinandersetzen. Drittens möchte ich all diejenigen unterstützen, die noch am Anfang ihrer Forschungskarriere stehen. Gerade wird am Institut zum Beispiel eine neue Publikationsreihe mit Working Papers vorbereitet.
Es sind also drei Dinge: Internationalisierung, Inklusion und Unterstützung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Da Sie dem Institut seit seiner Gründung, seit bald zehn Jahren angehören – was hat sich im Migrationsdiskurs, in der Bedeutung von Migration in der deutschen Gesellschaft, aber auch
in der Forschung in der letzten Dekade verändert?
Es hat sich eine Menge getan. Aus meiner Sicht ist eine der wichtigsten Entwicklungen, dass Deutschland seit einiger Zeit zahlreiche Geflüchte Flüchtlinge aus den sogenannten MENA-Regionen – dem Nahen Osten und Nordafrika –, aber seit letztem Jahr eben auch aus der Ukraine aufnimmt. Der Diskurs über Migration ist inzwischen ein anderer.
Und dementsprechend hat sich auch die Migrationsforschung in Deutschland verändert, gerade auch am BIM. Jetzt geht es viel stärker darum, das Leben dieser Menschen zu verstehen. Es ist also eine Forschung, die komplexer geworden ist. Gleichzeitig haben sich die Konzepte, die wir verwenden, verändert; das Verständnis für die humanitären Bedürfnisse der Menschen gewinnt an Bedeutung. Es sind Fragen wie: Welche Art von Arbeit brauchen Geflüchtete und Zugewanderte? Welche Art von Schulen? Wie können sie ein Teil von Deutschland werden? Wir versuchen also zu verstehen, wie sie sich, wenn sie dazu bereit sind, als Teil unserer Gesellschaft fühlen können. Vor gerade einmal fünfzehn Jahren haben wir noch darüber diskutiert, ob Deutschland überhaupt eine Einwanderungsgesellschaft ist.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Rassismusforschung. Vor etwa zwanzig Jahren, als ich nach Deutschland kam, war der Begriff Rassismus noch gar nicht so sehr verbreitet. Einmal war ich auf einer Konferenz und habe das Wort Rassismus benutzt – der Vorsitzende des Panels meinte: Na ja, man würde den Begriff hier in Deutschland eigentlich nicht verwenden; er sei mit dem Dritten Reich konnotiert. Heute sehen wir, dass es eine viel größere Sensibilität für Rassismusforschung gibt. Das BIM spielt in diesem Kontext eine tragende Rolle. Viele unserer Wissenschaftler*innen forschen und publizieren über Rassismus; etwa im Rahmen des Rassismus-Monitorings, dem NaDiRa-Projekt am DeZIM (Anmerkung: Nationaler Diskriminierungs- und Rassimusmonitor am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung). Oder nehmen wir die Staatsministerin Reem Alabali-Radovan, die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, die kürzlich den offiziellen Rassismusbericht vorgestellt hat. Dass der Staat die Tatsache anerkennt, dass es Rassismus in der deutschen Gesellschaft gibt, ist ein großer Fortschritt.
Ich denke also, dass sich die Migrationsforschung in den letzten zehn Jahren deutlich verändert hat. Dabei war das BIM einer der zentralen Impulsgeber.
Was sind Ihre eigenen Forschungsschwerpunkte?
Migration und Gender. Dabei interessieren mich besonders Fragen und Konflikte, die muslimische Frauen in Europa betreffen. Stichpunkt Kopftuch, Zwangsehe, Gewalt im Namen der Ehre. Es geht dabei aber auch um Konflikte innerhalb muslimischer Gruppen, zum Beispiel, wie türkische Immigrant*innen Geflüchtete aus dem arabischen Raum diskriminieren – und umgekehrt. Es gibt eben auch innerhalb muslimischer Gruppen Heterogenität. Und ich interessiere mich für Intersektionalität. Dabei zeigt sich, neue Formen der Diskriminierung entstehen, wenn Rassen-, Geschlechter- und Klassenkonflikte aufeinandertreffen.
Das jüngste Forschungsprojekt, an dem ich beteiligt bin, befasst sich mit der Frage, wie sich Menschen aus Europa, europäische Bürger*innen, dem IS, dem Islamischen Staat, anschließen konnten. Jetzt kommen diese Menschen zurück, weil sie von den staatlichen Behörden repatriiert werden. Einer der Punkte ist, wie sie rehabilitiert werden oder wie sie versuchen, in die europäischen Gesellschaften zurückzukehren. Wir möchten in dem Projekt herausfinden, welche Art von Infrastruktur für sie zur Verfügung steht. Wobei ganz am Anfang die Frage steht, warum diese Menschen überhaupt diesen Schritt getan haben. Warum verlassen europäische Bürger*innen das Land, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen? Was passiert mit ihnen, wenn sie in Lagern leben oder im Gefängnis sind? Und was geschieht ihren Kindern, die mit dem Islamischen Staat aufgewachsen sind?
Meine Hauptforschungsfelder sind also Zugehörigkeit und Intersektionalität. Man könnte es auch so formulieren: Was bedeutet es, Europäer*in zu sein? Es wird ein Buch zu diesem Thema geben, an dem ich gerade zusammen mit meiner Kollegin Anna C. Korteweg; mit ihr habe ich bereits auch ein Buch über die Kopftuchdebatte geschrieben.
Welche Bedeutung hat Ihr persönlicher Migrationshintergrund für Sie als Wissenschaftlerin –
hat er eine Bedeutung?
Ich bin dreimal eingewandert, von der Türkei nach Kanada, von Kanada nach Irland und von Irland nach Deutschland. Und ich habe einen türkischen Hintergrund; während meiner Ausbildung und meiner Promotion lebte ich in Kanada.
Türkei und Kanada – ich denke, dass ich von beiden Kulturen etwas mitbringe. Es ist ein Verständnis von Inklusivität und Multikulturalität – dass Menschen akzeptiert und einbezogen werden, egal, welchen Hintergrund sie haben. Deshalb möchte ich in meinem Forschungsumfeld besonders auf Vielfalt und Inklusion Wert legen.
Und natürlich spielt es auch eine Rolle, dass ich eine Frau bin, die außerdem Deutsch als dritte Sprache spricht. Es bedeutet, dass auch Menschen, die Deutsch als Fremdsprache sprechen, in Führungspositionen kommen und Teil der deutschen Gesellschaft werden können.
Sie haben am Anfang das BIM als eine Art Zuhause bezeichnet. Gilt das auch für Berlin?
Ich nenne das umgekehrte Genealogie: Wir gehören dorthin, wo unsere Kinder geboren wurden. Meine Tochter spricht perfekt Deutsch. Sie ist hier geboren und gehört zu meiner Familie. Wir alle gehören zu Deutschland. Berlin ist unsere Heimat.
Interview: Wolf Farkas
„What does it mean to be European?“ Interview as PDF
Prof. Gökçe Yurdakul, the new co-director of the BIM, about her plans, the changes of migration research and her own background as a scientist.
Prof. Yurdakul, first of all: Congratulations! Now it's official – you’re the new director of the BIM, together with Prof. Herbert Brücker and as a successor of Prof. Naika Foroutan. In your new position, what are the important topics for you?
First of all, I’m really honoured. And as I’m one of the founding members of the BIM, I’ve been here for ten years now. So it’s like home for me. Well, there are three topics that are important for me.
One of them is internationalization. I would like to bring more international scholars, networks and research to the institute. This fits in well with the ideas of Julia von Blumenthal, the current President of Humboldt University. I would like to do is to work closely with countries of the Middle East and North Africa. Establish research relationships with them. I also have in mind to strengthen the collaboration with the University of Toronto, like doing PHd exchanges and supervision with them together.
Second, as I am happy to arrive to an inclusive environment at the BIM, I want to endorse it further“. I would like to organize conferences, workshops and more social activities – to create a a vibrant research environment that brings the researchers here together. This inlcudes a key concept discussion in order to deal critically with the key concepts in migration research. Third, I would like to support people who are in their early research careers. For example, I would like to support our members who are about to establish a new publication series.
So these will be the three things: internationalization, inclusion, support for early career researchers.
As it's quite a long time that you’re member of the BIM – what’s your impression, do you have
in mind things which have changed within the migration discourse, regarding the meaning of migration in the German society, but also for migration research?
There have been quite big changes in the last decade. One of the most important ones is that Germany is now receiving a lot of refugees from the so-called MENA regions – Middle East, North Africa –, but also from Ukraine. This has changed the discourse about migration quite a bit.
For this reason, the migration research in Germany right now, especially in the BIM, shifted. Now it's more about trying to understand the lifes of these people. So it’s in depth research. At the same time, also the concepts that we’re using have changed. The understanding of humanitarian needs of people has becoming more important. Questions like: What kind of work do these people need? What kind of schools? How can they be a part of Germany? We try to understand how they can feel as a part of our society – if they're willing to. One has to consider that fifteen years ago, we were still discussing if Germany is an immigration society or not.
The other thing is regarding racism research. Around twenty years ago, when I first came to Germany, the term racism was not even so prevalent. I was attending a conference, for example, and have been using the word racism, and the chair of the panel said: Well, we don’t use the word racism in Germany because that’s something that would belong to the Third Reich. Now we’re seeing that there’s much more sensitivity towards racism research. And BIM is doing serious racism research and became an important part of that impetus. A lot of our scholars publish about racism research, for example as a part of the racism monitoring process, the NaDiRa project in the DeZIM (Note: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung). Or let's take the state minister, for example, Reem Alabali-Radovan, the Federal Government Commissioner for Migration, Refugees and Integration who recently presented the racism report on state level. It's a huge progress that the State accepts that there is racism in the German society.
So I think that migration research dramatically changed in the last ten years. And BIM has been in the core of all this changes.
What are your own focal points as a scientist?
Migration and gender. I am particularly interested in the issues and problems of Muslim women in Europe. Like the headscarf, forced marriages, honour based violence. And I'm also interested in the conflicts that exist within Muslim groups. For example how Turkish immigrants discriminate against Arabs and vice versa, in order to show the heterogeneity inside muslim groups as well. And I’m also interested in intersectionality – which shows that racialisation, gender, class are all coming together in order to create new forms of discrimination.
The most recent research project that I’m involved in is that we’re doing research regarding the question how people from Europe, European citizens, went to join the IS – the Islamic State. Now these people are coming back for they’re repatriated through the State authorities. And one of the points is how they’re rehabilitated or how they try to being integrated in the European societies. I would like to figure out what kind of infrastructure is available for them. First of all, I want to find out why these people left at all – why do European citizens leave to join the Islamic State? What’s going to happen to those who are in the camps or in prisons? And what happens to them and to their children who grew up with the Islamic State.
So my main research fields are belonging and intersectionality. The question behind it is: What does it mean to be European? I’m planning to write a book about this topic; together with my colleague Anna C. Korteweg, with whom I have already written a book about the headscarf debate.
What’s the meaning of your personal migration background – does it have a meaning for you as a scientist at all?
I immigrated three times, from Turkey to Canada, from Canada to Ireland, and from Ireland to Germany. And I also have a Turkish background and spent my formation years and my promotion, my doctor dissertation years in Canada.
So I believe that I bring something of both of these cultures, from Turkey and from Canada. It's an understanding of inclusivity and multiculturalism – that people are accepted and included no matter what kind of a background they’re coming from. For that reason I would like to emphasize diversity and inclusion in my research environment.
And, of course, being a woman and being somebody who is speaking German as a third language at the same time – this also plays a role. It's about that people who are speaking German as a foreign language can also come to decision making positions in Germany and become a part of German society.
At the beginning, you called the BIM something like home. Does that also apply to Berlin?
I call this reverse genealogy: We belong to places where our children are born. My daughter speaks perfectly German. She’s born here. And she’s my family. We all belong to Germany. Berlin is absolutely home.
Interview: Wolf Farkas
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