Drei Fragen zur Ukraine an Bernd Kasparek
Sie beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Grenzen und Asyl in Europa. Wie sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Geflüchtete aus der Ukraine, die jetzt einen Asylantrag in einem EU-Land stellen?
Die Situation ukrainischer Schutzsuchender unterscheidet sich fundamental von Flüchtenden beispielsweise aus Afghanistan oder Syrien. Seit einigen Jahren gilt die visafreie Einreise für ukrainische Bürger:innen. Damit ist nicht nur die Einreise, sondern auch ein 90-tägiger Aufenthalt im Schengen-Raum möglich. Das bedeutet, dass die Schutzsuchenden aus der Ukraine nicht an der europäischen Außengrenze 'hängenbleiben', sondern etwa direkt zu Verwandten oder Freunden reisen können. Aufgrund dieser legalen Einreise kommt es bei einer späteren Asylantragstellung nicht zur Anwendung des Dubliner Grundsatzes des Land der ersten Einreise.
Kurzum: die gesamte Problematik des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems mit Massenlagern an der Grenze und der Abschiebung von Asylsuchenden innerhalb Europas kann in diesem Fall umgangen werden – aufgrund der visafreien Einreise.
Was jetzt noch fehlt ist ein unbürokratischer Schutzstatus für alle aus der Ukraine Geflüchteten. Dies könnte etwa mit Hilfe der Massenzustroms-Richtlinie aus dem Jahr 2001 (2001/55/EG) erfolgen, die exakt für Kriegssituationen vverabschiedet wurde. Auf ihrer Grundlage könnte ein schneller, temporärer Schutzstatus vergeben werden, der keine individuelle Prüfung voraussetzt und automatisch eine europäische Lösung darstellt.
Welche Bedeutung hat hier das 2020 von der Europäischen Kommission verabschiedete Asylpaket?
Das so genannte Neue Migrations- und Asylpaket der Europäischen Kommission, welches nach dem Brand des Flüchtlingslagers Moria auf Lesbos vorgestellt wurde, ist ein weiterer Anlauf, die Reformierung des europäischen Asylsystems voranzubringen. Dabei muss jedoch festgehalten werden, dass die Gesetzesvorschläge massive Verschlechterungen für Asylantragsteller:innen darstellen. Wäre das Paket jetzt schon gültig und gäbe es die visafreie Einreise nicht, so hätten wir nun riesige Internierungslager an den Grenzen zur Ukraine, wo Schutzsuchende festgehalten werden würden. Dort müssten sie ein reduziertes, beschleunigtes Asylverfahren durchlaufen – ohne rechtlichen Beistand. Aufgrund höherer Gewalt (force majeure, ein Krieg zählt sicherlich dazu) wäre es sogar möglich, weitere prozedurale Garantien zu unterlaufen. Erneut gäbe es keine europäische Lösung, denn das Dubliner System wird durch die Reform nicht angetastet.
Angesichts der Fluchtbewegungen aus der Ukraine, die sicherlich noch zunehmen werden, zeigt sich also, dass sich die europäische Flüchtlingspolitik in den letzten Jahren in eine flüchtlingsfeindliche Richtung entwickelt hat. Ich hoffe sehr, dass wir dieses Mal eine solidarische und europäische Lösung im Sinne der Schutzsuchenden finden und entlang dieses Ansatzes dann eine tatsächliche Reform des europäischen Asylsystems verfolgen.
Die ukrainisch-polnische Grenze ist eine Außengrenze der EU. Welche rechtliche Bedeutung hat das für Geflüchtete?
Aus völkerrechtlicher Sicht ist klar, dass Schutzsuchende schon an der Grenze ein Schutzbegehren zum Ausdruck bringen können müssen, woraufhin sie Zugang zum europäischen Asylsystem erhalten sollten. Dieses Schutzbegehren muss nicht einmal explizit geäußert werden: Grenzschutzbeamte sind verpflichtet, schon beim Anschein, eine Person könnte schutzbedürftig sein, eine weitere Prüfung – also eine Überstellung ins Asylsystem – zu veranlassen. Das dies auch extraterritorial, also etwa auf hoher See oder im Niemandsland gilt, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 in seiner Hirsi-Entscheidung klar festgehalten.
Soweit die Theorie. Nun wissen wir aber, dass die europäische Außengrenze für viele Schutzsuchende eine hohe Hürde darstellt. Wir wissen, dass vor allem in den letzten Jahren vermehrt Schutzsuchende an den Grenzen gewalttätig zurückgewiesen werden – die so genannten Pushbacks, die ein klarer Verstoß gegen das Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention sind. Besonders deutlich haben wir das in den letzten Monaten an der polnisch-belarussischen Grenze gesehen, als Polen das Refoulement zur offiziellen Politik erhoben hat. Andere Mitgliedstaaten der EU, die in ähnlicher Weise gegen Völkerrecht und Europarecht verstoßen, versuchen dies normalerweise, zu kaschieren.
Genau deswegen ist es nun so wichtig, dass die Grenzübergänge für Schutzsuchende aus der Ukraine offen bleiben. Es mehren sich beispielsweise schon Berichte, dass etwa afrikanische und indische Student:innen, die in der Ukraine leben, an der Einreise in die EU gehindert werden. Wir werden die Situation sehr genau verfolgen müssen. Allerdings zeichnet sich aktuell zumindest eine große Mehrheit in Europa sowie im Rat der Europäischen Union für eine unkomplizierte Aufnahme der Flüchtenden ab. Dies stimmt mich optimistisch, dass Europa fähig ist, solidarisch zu handeln und diesmal nicht auf eine Abschottungspolitik setzen wird. Hoffentlich setzt sich diese Erfahrung dann auch langfristig als Politik durch.
Interview: Wolf Farkas
Dr. Bernd Kasparek ist Kulturanthropologe, Mitarbeiter des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) in der Abteilung Integration, soziale Netzwerke und kulturelle Lebensstile. Er arbeitet aktuell im Projekt „Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft“ (https://transformingsolidarities.net).
Zuletzt erschien sein Buch „Europa als Grenze. Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex“ (transcript, 2021). Zum Buch: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5730-2/europa-als-grenze/