Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)

„Soll man Ukrainern das Bürgergeld streichen, Herr Brücker?“

Politiker von FDP und CDU wollen das Bürgergeld für ukrainische Flüchtlinge einschränken. Der Forscher Herbert Brücker warnt im Interview mit Spiegel online im Aufmacher vor den arbeitsmarktpolitischen Folgen. / Politicians from the FDP and CDU want to restrict the citizens' allowance for Ukrainian refugees. In an interview with Spiegel online on page one, researcher Herbert Brücker warns of the consequences for the labor market.


>Spiegel online (Paywall): https://www.spiegel.de/politik/deutschland/buergergeld-forscher-warnt-davor-ukrainischen-fluechtlingen-das-buergergeld-zu-streichen-a-0ff15ab1-0086-4a4f-bf0f-e99ceffa3b4b


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„Soll man Ukrainern das Bürgergeld streichen, Herr Brücker?“

Politiker von FDP und CDU wollen das Bürgergeld für ukrainische Flüchtlinge einschränken. Der Forscher Herbert Brücker warnt vor den arbeitsmarktpolitischen Folgen.

Ausgabe Spiegel online 17.6.2024. Interview von Anna Reimann.

SPIEGEL: Herr Brücker, die EU-Länder haben kurz nach Kriegsbeginn 2022 die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz der Kriegsflüchtlinge aktiviert. Die Folge: Ukrainer müssen kein reguläres Asylverfahren durchlaufen, um in der EU bleiben zu dürfen. In Deutschland haben sie deshalb Anspruch auf Bürgergeld. Politiker aus Union und FDP wollen das nun ändern und Ukrainern niedrigere Geldsätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zahlen. Widerspricht das der EU-Richtlinie?

Brücker: Grundsätzlich nicht. Die EU-Richtlinie legt nur fest, dass Ukrainer Leistungen bekommen müssen, nicht die Form der Leistungen. Die Frage, ob Bürgergeld oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gezahlt werden, bleibt der nationalen Gesetzgebung überlassen.

SPIEGEL: Ist der Vorschlag also sinnvoll?

Brücker: Asylbewerberleistungen sind für einen überschaubaren Zeitraum gedacht, in dem die Menschen sich im Asylverfahren befinden. Man geht bei den Geldern für Asylbewerber von einem geringen Bedarf aus, etwa davon, dass Asylbewerber keine eigene Waschmaschine oder Ähnliches benötigen. Menschen, die länger bleiben, also auch die meisten Ukrainer, leben in eigenen Wohnungen und haben einen höheren Bedarf.

SPIEGEL: Rechtlich aber wäre eine Umstellung möglich?

Brücker: Es gibt ein weiteres Problem: Entzieht man Ukrainern das Bürgergeld, würden sie langfristig schlechter gestellt als Flüchtlinge aus anderen Ländern, die ja auch Bürgergeld bekommen, sobald sie hier einen Schutzstatus erhalten.

SPIEGEL: Und das wäre ungerecht.

Brücker: Richtig, Ukrainerinnen und Ukrainer würden ja auch weiterhin, so die politische Idee, direkt nach ihrer Ankunft automatisch einen Schutzstatus haben. Eine Schlechterstellung im Vergleich zu anderen Flüchtlingen mit Schutzstatus widerspricht damit dem Gerechtigkeitsempfinden. Ob sie rechtlich möglich ist, müssen die Juristen beurteilen.

SPIEGEL: FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai will, dass alle neu ankommenden Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine künftig kein Bürgergeld mehr bekommen, sondern unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen. Wie realistisch ist diese Forderung?
»Mir scheint es undenkbar, Menschen pauschal Schutz zu verwehren, weil sie nicht gegen die Russen kämpfen wollen.«


Brücker: Es ist natürlich eine Ungleichbehandlung von Ukrainerinnen und Ukrainern, die später gekommen sind, im Vergleich zu denen, die vorher gekommen sind. Solche Ungleichbehandlungen gibt es aber mitunter bei anderen Gruppen auch. Was rechtlich möglich ist, müssen am Ende aber die Gerichte klären.

SPIEGEL: Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen von der CDU, will das Bürgergeld vor allem für geflohene Ukrainer im wehrfähigen Alter auslaufen lassen. »Es passt nicht zusammen, davon zu reden, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen und im gleichen Atemzug fahnenflüchtige Ukrainer zu alimentieren«, sagte er. Was halten Sie von diesem Vorstoß?

Brücker: Stübgens Argument betrifft weniger das Bürgergeld als die Frage, ob wir Geflüchtete aus der Ukraine, darunter auch Männer, grundsätzlich aufnehmen sollen. Die EU hat mit der Gewährung von vorübergehendem Schutz für alle Staatsangehörigen aus der Ukraine eine Grundsatzentscheidung getroffen.

SPIEGEL: Mit welchen Folgen?

Brücker: Wir sind verpflichtet, allen Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, temporären Schutz zu geben – darüber kann sich Deutschland nicht hinwegsetzen. Will man diese Politik wirklich ändern? Wie kann das gehen? Fluchtgründe bestehen ja unabhängig von der Wehrpflicht weiter. Mir scheint es undenkbar, Menschen pauschal Schutz zu verwehren, weil sie nicht gegen die Russen kämpfen wollen. Im Übrigen: Es steht allen Ukrainerinnen und Ukrainern, die nach Deutschland einreisen, offen, formal einen Asylantrag zu stellen. Dann würden sie zwar zunächst für eine Zeit weniger Geld erhalten, aber bei Anerkennung eben doch Bürgergeld. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Politik diesen Zulauf im Asylsystem wirklich will.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Brücker: Die Entscheidung der EU-Staaten, dass Ukrainerinnen und Ukrainer kein Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern sofort Schutz erhalten, war ja auch eine pragmatische. Stellen wir uns nur vor, eine Million Ukrainer hätte in Deutschland um Asyl ersucht, es hätte absolutes Behördenchaos beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gegeben. Und auch die Kommunen hätten eine noch größere Last schultern müssen, weil sie alle Ukrainerinnen und Ukrainer wie andere Flüchtlinge auch hätten unterbringen müssen. Das ist bei den Ukrainerinnen und Ukrainern anders. Rund 90 Prozent leben in privaten Wohnungen und anderen privaten Unterkünften. Wir haben uns also sehr viel Arbeit gespart.

SPIEGEL: Erhielten Ukrainer Asylbewerberleistungen statt Bürgergeld, werde ein Anreiz geschaffen, sich Arbeit zu suchen, sagt der FDP-Generalsekretär. Würde diese Rechnung aufgehen?

Brücker: Natürlich gilt das ökonomische Argument, dass niedrige staatliche Leistungen den Anreiz erhöhen können, sich eine Arbeit zu suchen. Allerdings gibt es in Bezug auf die Ukrainer einen großen Haken: Weil sie Bürgergeld erhalten, sind sie automatisch in das Jobcenter-System und in dessen Forder- und Förderstruktur integriert. Menschen, die Asylbewerberleistungen erhalten, sind bei den Kommunen angesiedelt. Sie können sich freiwillig bei den Arbeitsagenturen melden, tun es in der Regel aber nicht, wie wir aus der Forschung wissen. Das bedeutet, ihre Integration in Arbeitsmarkt und damit auch in die Gesellschaft verzögert sich. Ich vermute deshalb, dass ein Übergang in das Leistungssystem nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die Erwerbstätigenquoten der Menschen aus der Ukraine eher senken als erhöhen wird. Tatsächlich beträgt die Differenz zwischen Bürgergeld und Asylbewerberleistungen für Alleinstehende oder Alleinerziehende auch nur rund 100 Euro. Ich glaube nicht, dass diese Summe sehr starke Anreizwirkungen hat.

SPIEGEL: Ist die politische Debatte also eine populistische?

Brücker: So weit würde ich nicht gehen, alles darf diskutiert werden. Ich halte die Vorschläge nur aus arbeitsmarktpolitischer Sicht meiner Einschätzung nach nicht für zielführend. Um die Erwerbstätigenquote zu erhöhen, dürften die positiven Effekte der Förderstrukturen der Jobcenter stärkere Auswirkungen haben als die Absenkung der Sozialleistungen.

SPIEGEL: Die Zahl der Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich in Deutschland einen Job gesucht haben, sei auffällig niedrig, bemängeln Politiker immer wieder. Stimmt das denn?
Brücker: Das ist alles etwas komplizierter. Wir kennen nur die Erwerbstätigenquote von allen in Deutschland lebenden Ukrainern, und die liegt bei knapp 27 Prozent. Wir gehen davon aus, dass von denjenigen, die 2022 gekommen sind, mehr als 30 Prozent arbeiten. Bei gleicher Aufenthaltsdauer ist die Arbeitsquote bei Menschen aus der Ukraine gleich hoch oder sogar höher als bei anderen Flüchtlingsgruppen.

SPIEGEL: Trotzdem scheinen die Zahlen auch im internationalen Vergleich niedrig. Ukrainerinnen und Ukrainer sind doch oft beruflich hoch qualifiziert.

Brücker: Wir liegen im europäischen Mittelfeld. Richtig ist, dass einzelne Länder die anstatt auf Sprachkurse auf eine schnelle Arbeitsmarktintegration setzen, wie Dänemark und die Niederlande, kurzfristig höhere Erwerbstätigenquoten erreichen. Langfristig sind sie aber bei den anderen Geflüchteten geringer. Hinzu kommt, dass viele Geflüchtete aus der Ukraine schon wieder zurückgekehrt sind und andere neu gekommen sind. Je kürzer die Aufenthaltsdauer, desto niedriger die Erwerbstätigenquoten. Auch die hohe Ungewissheit über den Kriegsausgang und die Bleibeperspektiven senken die Beschäftigungschancen. Außerdem sind viele der Geflüchteten Frauen, die kleine Kinder haben und alleinerziehend sind und deshalb schwieriger arbeiten können. Ein weiterer Faktor ist, dass das Durchschnittsalter der geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer insgesamt höher ist als bei anderen Gruppen, viele sind über fünfzig und schwerer in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

SPIEGEL: Also lässt sich am gegenwärtigen Zustand nichts ändern?

Brücker: Das würde ich nicht sagen, die Zahlen steigen ja trotzdem an, allein im März ist die Beschäftigung der Ukrainerinnen und Ukrainer um 10.000 Personen gestiegen – trotz Bürgergeld. Es kommt aus meiner Sicht vielmehr darauf an, dass wir die Menschen schneller in Sprachkurse und in die Arbeitsvermittlung integrieren, als die Leistungssätze um 100 Euro im Monat zu senken. Wir müssen effizienter werden.




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